«Eine solche Situation habe ich in 40 Jahren nie erlebt.»
Wie viel Spass macht es zurzeit, Fahrradhersteller zu sein?
Ich arbeite seit über 40 Jahren in der Fahrradindustrie und ich finde es immer noch sehr interessant, spannend und motivierend, Velos zu produzieren. Durch das gestiegene Umweltbewusstsein, werden Bikes noch positiver wahrgenommen. Aber was wir zurzeit erleben, ist die verrückteste Zeit meiner Karriere.
Grund dafür ist die Corona-Pandemie?
Richtig. Im Frühling 2020 war unsere grösste Sorge der Verkauf. Die Shops mussten schliessen und sie teilten uns mit, dass sie uns nicht werden bezahlen können. Drei Monate später hatten wir einen Bike-Boom. Aus den Absatzsorgen wurden Lieferengpässe. Es war ein ziemlicher Rodeoritt.
Wie gehen Sie mit den Lieferengpässen um?
Wir haben sehr schnell unsere Lieferanten in Asien kontaktiert, um für die folgenden Jahre genug Teile bestellen zu können. Die Lieferfrist bei den Komponentenherstellern stieg von 90 auf über 400 Tage.Wir haben dann unseren Händlern mitgeteilt, dass sie früh bestellen sollen, damit wir genug einkaufen können.
Konnte Rocky Mountain für das Jahr 2021 so viele Bikes produzieren, wie gewollt?
Ja, aber sie sind alle bereits verkauft. Die 2022er Modelle, die wir in noch grösserer Stückzahl produzieren werden und für die wir unsere Bestellungen im letzten Herbst aufgeben mussten, sind ebenfalls zu 95 Prozent verkauft. Mehr können wir nicht produzieren. Wir haben in diesem Frühling die ersten Bestellungen für die 2023er Modelle aufgeben. Auch da werden wir die Produktion gegenüber dem Vorjahr erhöhen. Im Vergleich zur Zeit vor dem Boom ist die Nachfrage um rund 30 Prozent gestiegen.
Wie wirken sich Reiseeinschränkungen auf die Produktion aus?
Unsere Mitarbeiter in Nordamerika, die für die Qualitätskontrolle zuständig sind, können seit eineinhalb Jahren nicht mehr nach Asien fliegen. Zum Glück haben wir dort ein paar gute lokale Mitarbeiter, die die Qualitätskontrolle für uns übernehmen. Wir sind dabei, Qualitätskontrollsysteme zu entwickeln. Es werden Roboter durch die Fabriken fahren und die Herstellung filmen.
Muss man einem Bike-Rahmen nicht in die Hand nehmen, um zu erkennen, ob er gut gearbeitet ist?
Ja, das muss man. Zum Glück haben wir unsere lokalen Angestellten, die diesen Part für uns übernehmen.
Bei welchen Teilen gab es die grössten Engpässe?
Die Rahmenhersteller arbeiten spezifisch für uns – sie haben die Formen, die es für unsere Carbon- und Alurahmen braucht. Zu ihnen ist der Kontakt enger, spezielle Lösungen sind eher möglich. Was wir bei Shimano und Sram bestellen, ordern alle anderen Fahrradhersteller auch. Dort ist der grösste Engpass. Die Situation ändert aber auch immer wieder. Für die 2021er Modelle hatten wir plötzlich Mühe, genügend Sättel zu erhalten. Und wenn an einem Velo ein Teil fehlt, kann man es nicht verkaufen.
Hat niemand mehr Fahrradteile in Reserve?
Alle Lager sind leer und alle kämpfen mit Lieferfristen von über einem Jahr. Viele Hersteller von Fahrradteilen beliefern nur noch bestehende Kunden und nehmen keine neuen mehr an. In dieser Situation eine neue Bike-Marke zu lancieren ist sehr schwer, weil man kaum Komponenten einkaufen kann.
Die Fabriken produzieren wegen der Pandemie nicht mit voller Kapazität. Das macht die Situation ja noch schwieriger!
Ja, aktuell erlebt Asien die dritte Welle. Trotzdem produzieren die Fabriken mehr als je zuvor, doch das reicht nicht, um die Nachfrage zu bedienen. In 40 Jahren Fahrradproduktion habe ich es nie erlebt, dass die Preise mitten in der Saison steigen. Das ist in diesem Jahr der Fall und geschieht erst noch sehr kurzfristig.
Wer erhöht die Preise?
Die Lieferanten erhöhen sie, weil ihre Kosten gestiegen sind und auch weil die Nachfrage so hoch ist. Wir haben im letzten Herbst unsere Komponentenbestellungen aufgegeben. Ein halbes Jahr später teilten uns die Hersteller mit, dass wir mehr bezahlen müssen. Deshalb mussten auch wir die Preise erhöhen, welche wir mit unseren Händlern bereits vereinbart hatten. Es ist eine globale Situation, von der alle betroffen sind, von den Fabriken in Asien bis zu den Endkunden in aller Welt.
Heisst das, Rocky Mountain könnte mehr Bikes verkaufen, als produziert wurden?
Ja, das ist so. Wir konnten nicht so viel produzieren, wie wir verkaufen könnten.
Verlieren Sie Leute als Kunden, wenn diese ihr Wunsch-Bike nicht kaufen konnten?
Die eingefleischten Biker warten auf ihr Wunschvelo. Viele andere kaufen, was sie kriegen können. Auch einige Händler tun das. In zwei oder drei Jahren werden diese feststellen, dass sie zu viele Marken im Sortiment haben. Ich gehe davon aus, dass die Nachfrage wieder zurückgehen wird. Einige haben ein Bike gekauft, weil sie in der Pandemie nicht mehr reisen konnten. Gut möglich, dass sie das Interesse daran wieder verlieren. Anderseits haben auch einige das Mountainbike wiederentdeckt. Die werden eher dabeibleiben und weitere Bikes kaufen.
Erwarten Sie ein Überangebot an Velos in ein paar Jahren?
Ja, jetzt bestellen alle mehr und in etwa zwei Jahren werden zu viele Velos auf dem Markt sein. Diese Wellenbewewung gibt es immer, die ist nichts Neues für uns.
Haben Sie Leute eingestellt, die Sie wieder entlassen müssen, wenn der Boom vorbei ist?
Da sind wir vorsichtig. Wir haben seit letztem Jahr unseren Kundenservice und die Kommunikation mit unseren Kunden – das sind die Händler und Vertriebsfirmen – ausgebaut und verbessert. Wenn die Händler in ein paar Jahren Marken wieder abstossen, wollen wir, dass sie Rocky Mountain behalten.
Wann wird sich die Situation auf dem Fahrradmarkt normalisieren?
Ich denke, 2022 werden wir wieder normal arbeiten können. Das betrifft dann die Modelle von 2023 und 2024.
Wie geht es den Fahrradherstellern, wenn sich die Situation normalisiert?
Aktuell geht es wohl allen gut, denn sie konnten viel verkaufen, ihre Rentabilität ist gut. Wie sie damit umgehen, wenn die Nachfrage sinkt, kann ich nicht sagen.
Wie lange werden Sie Rocky Mountain noch leiten?
Ich habe meine Nachfolgerin als CEO bereits eingestellt. Katy Bond ist aktuell Generaldirektorin und wird den Posten der CEO übernehmen. Da mir das Unternehmen zu 100 Prozent gehört, werde ich weiterhin mitarbeiten, aber etwas mehr aus dem Hintergrund.
Zur Person
1977 gründete der Québécois Raymond Dutil das Unternehmen Procycle, welches in erster Linie Warenhausvelos produzierte. 1981 begann in Vancouver die Geschichte von Rocky Mountain. 1997 übernahm Procycle Rocky Mountain, was in der Mountainbike-Gemeinde für tiefe Stirnrunzeln sorgte. Doch Dutil gelang es, das Profil der Kultmarke zu erhalten. 2018 trennte er sich von den anderen Brands und benannte seine Mutterfirma in Rocky Mountain um.