Meinung: Migros, weshalb machst du das?
Es ist eines der am emotionalsten diskutierten Themen der letzten Jahre in der Velobranche. Und sicherlich auch eine der krassesten Marktveränderungen für viele Menschen, die in der Schweiz mit Bikes ihren Lebensunterhalt verdienen. Migros macht mobil – und das mit hochwertigen Velos in grossflächigen Shops. In den nächsten Jahren sollen rund zehn dieser Bike Word-Filialen in der Schweiz stehen, drei Shops gibt es bereits.
Hunderte Velos
So war es an der Zeit, ein paar Wochen nach dem Startschuss im März, eine Filiale zu besuchen. Während ich von aussen noch misstrauisch reinkucke, ist im Innern des Shops Wohlbefinden angesagt. Bikes sind einfach so cool, sagt mir mein Stammhirn, und hier gibt es sehr, sehr viele Velos. Hunderte davon! Ich brauche einige Zeit, mich an das neue Shop-Format zu gewöhnen - weil eine Ausstellung von hunderten von attraktiven Neuvelos gibt es in der Schweiz dann doch nicht oft. Auch ist der Verkaufsraum und die Präsentation der Velos und Zubehör schön gemacht – das viele Holz und die Beschriftungen erschaffen einen Ambiance-Mix zwischen Stadt und Skihütte. Was deutlich urban anmutet, ist die Teststrecke inmitten des Ladens. Am Samstagnachmittag ist hier Hochbetrieb. Fussgänger und Velofahrer kreuzen ihre Wege auf nicht immer ganz ungefährliche Weise. Aber hey, eine Teststrecke im Shop, das ist richtig cool, und die Kundschaft kurvt auch rege darauf rum.
Nach dem ersten Eindruck, der einem Overkill gleichkommt, beginne ich mich im Shop zu orientieren. Die Mountainbike-Fullies interessieren mich am meisten. Ich scheine aber an diesem hoch frequentierten Samstagnachmittag während meinem gut einstündigen Shop-Besuch einer der Wenigen zu sein, der dafür Interesse zeigt. Die meisten Kunden beobachte ich, wie sie sich für Elektro-Stadtvelos interessieren und stellenweise etwas verzweifelt nach Beratung suchen. Die Shop-Mitarbeiter sind engagiert, sympathisch und freundlich bei der Sache, kommen aber bei dem Besucheraufmarsch nicht nach, alle Kunden adäquat zu beraten und zu bedienen. Auf grosses Interesse stossen auch günstige Hardtails. Mit solchen Bikes im Preisbereich von circa 600 bis 1'000 Franken sehe ich mehrere Kunden auf der Inhouse-Teststrecke rumkurbeln. Für grosses Staunen sorgt bei mir die Tatsache, dass von einem Schweizer à la carte-Velohersteller aus Kreuzlingen nur gerade drei Modelle im Laden stehen. Ich frage mich, weshalb dieser traditionsreiche Hersteller seine langjährigen Fachhandelskunden mutmasslich mit seinem Migros-Engagement verärgert, und dann doch nur drei Velos im Bike World stehen, die dort völlig untergehen.
Der Preis
Dann rede ich mit einem Kunden, der seine vor ein paar Jahren im Fachhandel gekauften Hardtails in der Bike World-Werkstatt abholt. Die Werkstatt ist offen zugänglich, man kann den Mechanikern beim Arbeiten zuschauen, das sorgt quasi für Transparenz. Für Transparenz sorgt auch die Rechnung, die an einem der zwei reparierten Hardtails angeheftet ist: Hier sind in Handschrift die ausgeführten Arbeiten und montierten Teilen notiert. Das erstaunt mich sehr, dass man in der Migros noch Abrechnungen erhält, die handschriftlich sind. Auch erstaunt mich – oder besser gesagt ärgert mich – dass ich weiss, dass die Migros mit Werkstattstundenansätzen arbeitet, die weit unter dem Niveau liegen, mit dem ein Fachhändler einen vernünftigen Lebensunterhalt erwirtschaften kann. Doch der Preis ist heiß – und der Wettkampf um Kunden via Tiefpreis scheint zu funktionieren: Der Kunde mit den reparierten Hardtails holte sich zuerst im Fachhandel eine Offerte ein, diese lag circa 20 Prozent überhalb dem Migros-Preis. Bei Bike World gebe es derzeit einen Service-Rabatt, er spare hier richtig Geld. Auch habe er gehört, dass hier ausgebildete Fachkräfte in der Werkstatt tätig sind.
Nach mehr als einer Stunde im Bike World stehe ich wieder am Anfang, nämlich am Ausgang. Hier stehen Mountainbikes mit besonders sattem Rabatt. Die Bikes stehen gleich in den Rahmengrössen Small, Medium und Large Spalier, das schreit förmlich: «Nimm mich mit nach Hause, ich passe zu Dir!» Besonders in der Rabattauslage ins Auge springt ein knallrotes Giant Anthem, mit sagenhaften 40 Prozent Rabatt. Auf dem Preisschild steht gross in rot «Special» geschrieben und sofort ins Auge springt die kalkulatorische Kampfansage: «40%», «1999.-» «statt 3599.-». Ob es ein Vorjahresmodell ist oder weshalb der Preis so tief ist, wird nicht kommuniziert. Gerne möchte ich nachfragen, aber sämtliches Personal hat alle Hände voll zu tun mit Verkauf und Beratung.
Als ich dann die Bike World-Filiale verlasse, habe ich dieses Gefühl: Hier wird richtig Lust auf Velofahren gemacht. Ich habe Kundschaft gesehen, die wohl schon länger nicht mehr auf einem Velo sass. Es kann also sein, dass Bike World den Markt öffnet.
David gegen Goliath
Auf dem Nachhauseweg wird mir schlagartig wieder klar: Ich stehe auf kleine, authentische, Inhaber-geführte Shops. Ich bevorzuge individualisierte Produkte - was mitunter vermutlich auch der Grund ist, weshalb ich einen Bikeshop mit Fokus auf à la carte Velos führe. Eine grosse Auswahl ist gut, doch meistens habe ich schon vor dem Kauf von Sportgerät bereits einige Infos und Erfahrungen intus, so dass es nichts ab Stange sein soll. Ich wäre wohl auch ohne eigenen Bikeshop nie Kunde von Bike World geworden, denn da gibt es (fast) nur Velos ab Stange. Und ich will mein Velo nicht dort kaufen, wo ein Unternehmen dahintersteckt, das nebst Velos auch Lebensmittel, Ärtzedienstleistungen, Kredite, Benzin, Computer und Fitnessstudioabos verkauft. Das hat einfach gar nichts mit dem flashigen Erlebnis zu tun, als ich mit zwölf Jahren das erste Mal den szenigen Surfshop Basel betrat.
Auch habe ich nach dem Besuch im Bike World das Gefühl: Migros agiert schamlos über den Preis und spielt ungeniert das Spiel David gegen Goliath. Für den Fachhandel kann eine derart krasse Rabattpolitik eines grossen Markt-Players ins Auge gehen. Die Aussagen der Migros-Verantwortlichen, der Schweizer Velomarkt gebe genug Volumen her, ist angesichts dieser Preispolitik schlichte Augenwischerei. Denn Fachhändler, die Fahrräder in kleineren Mengen einkaufen und nicht von grossen Mengenrabatten profitieren, machen bei einem Preisnachlass von 40 Prozent definitiv bereits ein Verlustgeschäft. Als nächstes werde ich bei Giant und Migros nachfragen, wie dieser rabiat rabattierte Preis des Giant Anthems zustande kommt. Ich bin sehr gespannt, ob und wie Giant und Migros antwortet.