Bruni und Seagrave trotzen beim Weltcup-Start Schlamm und Schneetreiben
Seagraves «Wintertraum»
Der Downhill-Weltcup in Polen verlangt den Fahrerinnen alles ab. Bereits früh zeigt sich, wie herausfordernd die Strecke ist: Veronika Widmann (Mondraker Factory Racing DH) meistert als dritte Starterin als erste den kompletten Kurs – ein deutliches Zeichen für die schwierigen Bedingungen. Lisa Bouladou (Goodman Santa Cruz) kommt vor dem Flachstück ins Schleudern, Phoebe Gale (Orbea / FMD Racing) verliert auf einer rutschigen Promenadenbrücke die Kontrolle und stürzt.
Danach setzt der US-Amerikanerin Newkirk ein erstes sportliches Ausrufezeichen: Sie jagt mit zeitweise 17 Sekunden Vorsprung auf den bisherigen Führenden an die Spitze und legt die Latte für alle weiteren hoch.
Nur vier Fahrerinnen bleiben innerhalb von zehn Sekunden Rückstand – der erste UCI-Weltcupsieg für Newkirk rückt in greifbare Nähe. Weder Marine Cabirou (Canyon CLLCTV Factory Team) noch Nina Hoffmann (Santa Cruz Syndicate) oder Gloria Scarsi (MS Racing) können ihre Zeit unterbieten. Scarsi setzt dabei auf ein riemenangetriebenes Bike, mit Blick auf die von Gates offerierten 100'000 Euro Preisgeld für einen Sieg mit dieser Technologie.
Dann kommt Tahnée Seagrave. Trotz einsetzendem Schneesturm attackiert die Britin die Strecke mit voller Wucht. Sie fährt, als wäre der Kurs trocken, dominiert die ersten drei Zwischenzeiten – und das, obwohl sie gegen Ende beinahe über den Lenker fliegt. Ihre Zeit: beeindruckende 3:34,340 Minuten.
Valentina Höll, amtierende Gesamtsiegerin des UCI-Downhill-Weltcups, kann Seagrave nichts entgegensetzen. Ihr fehlt an diesem Tag die nötige Aggressivität. Mit sieben Sekunden Rückstand reicht es für die Österreicherin nur für Rang fünf, während Seagrave sich eindrücklich zurückmeldet und dem Chaos trotzt.
«Aufgrund der widrigen Bedingungen funktionierten meine Bremsen nicht besonders gut, und ich glaube, das hat geholfen», scherzt Seagrave. «Man muss einfach das Beste daraus machen. Ich habe immer wieder auf die Bremse gedrückt, damit es funktioniert. Am Ende hatte ich einen kleinen Schreckmoment, weil ich das vergessen hatte, aber ich bin froh, dass ich es noch geschafft habe. Ich glaube nicht, dass es zu früh ist, um über die Gesamtwertung nachzudenken. Ich fühle mich so gesund wie noch nie, und ich habe mich von einer Reihe schrecklicher Verletzungen erholt. Ich hatte ein paar Jahre Zeit, um wieder ins Spiel zu kommen, und ich bin bereit, wieder alles zu geben.»
Bruni holt Sieg um Haaresbreite
Es ist ein Showdown bis zur letzten Kurve: Loïc Bruni zittert sich mit einem Vorsprung von nur einem Zehntel vor O’Callaghan ins Ziel – trotz eines Zeitverlusts von einer Sekunde zwischen den letzten beiden Zwischenzeiten. So verhindert der Franzose eine zweite bittere Niederlage in Polen innert weniger Jahre.
In einem Rennen, das von Stürzen und Risiko geprägt ist, erweist sich schon das blosse Auf-dem-Rad-Bleiben als Erfolgsrezept. Die leicht besseren Wetterbedingungen verleiten viele zu mehr Risiko – oft mit schmerzhaftem Ausgang.
Danny Hart (Norco Race Division) setzt früh eine erste ernstzunehmende Zeit. Doch Amaury Pierron (Commencal/Muc-Off by Riding Addiction) dominiert das Rennen über weite Strecken. Als sechster Fahrer des Nachmittags brennt er eine 3:05,675 auf die Piste – lange reicht das für Rang zwei. Nur Bruni unterbietet ihn.
Viele beginnen stark, doch keiner bringt einen sauberen Lauf ins Ziel. Benoît Coulanges (Scott Downhill Factory) verliert durch eine gerissene Kette jede Chance. Ronan Dunne, Andreas Kolb (YT MOB), Thibaut Daprela (Rogue Racing – SR Suntour) und Luca Shaw (Canyon CLLCTV Factory Team) verlieren in aussichtsreicher Position die Kontrolle.
Auch Lachlan Stevens-McNab (Trek Factory Racing DH) wird erneut Opfer des Kurses – zum zweiten Mal in Folge stürzt er schwer, während er auf Bestzeit-Kurs liegt.
Für einen Lichtblick sorgt Richie Rude (Yeti / Fox Factory Race Team). Der Amerikaner, zweifacher UCI-Enduro-Gesamtsieger, kehrt in den Downhill zurück – und beeindruckt mit irrem Tempo in den engsten Passagen. Nur sieben Zehntel fehlen auf Pierron. Kein Sturz, keine Fehler – ein Statement.
Ein ähnliches Comeback versucht Harriet Harnden (AON Racing – Tourne Campervans), die Enduro-Weltcup-Gesamtsiegerin von 2024. Sie qualifiziert sich als Dritte, stürzt dann aber im letzten Lauf und verliert über 30 Sekunden.
Dann kommt der grosse Moment von O’Callaghan. Der Ire zaubert einen fehlerfreien Lauf ins Ziel, übernimmt die Führung und jubelt. Fast sieht es so aus, als würde niemand mehr kontern können – bis Bruni startet.
Und Bruni liefert. Millimetergenau. Unbarmherzig. Siegreich.
«Die letzte Saison war ein bisschen mies, weil ich so knapp am Sieg vorbeigeschrammt bin», sagt Bruni. «Ich dachte nicht, dass ich es in mir hätte, da die Offseason etwas kompliziert war und das Wetter so weit von meinen Lieblingsbedingungen entfernt war, aber ich bin einfach weiter gefahren.Für mich war es nicht so perfekt, es war sehr rau, und ich wurde beim Bremsen überrascht. Ich musste einfach alles geben.»
Mit diesem Podium zieht Loïc Bruni mit seinem Helden Nicolas Vouilloz gleich, der in seiner Karriere 44 Mal auf dem Podium stand, obwohl er seine eigenen Leistungen im Vergleich zur französischen Legende herunterspielte.
O'Callaghan fügt hinzu, als er Brunis Lauf sieht: «Das bringt das Herz definitiv mehr zum Rasen als der eigene Lauf. Wow, das war knapp, ich habe mitgefiebert, aber es war ein guter Start, ich kann mich wirklich nicht beschweren.»