Einfach mal runterfahren! Die Bahnentour-Saison hat begonnen. | Ride MTB

Einfach mal runterfahren! Die Bahnentour-Saison hat begonnen.

Die Aletsch-Arena glänzt mit Spitzen-Trails und -Panorama zugleich.

Wer sich erholen will, legt sich auf die faule Haut. Das war einmal. Das neue Nichtstun heisst Grenzerfahrung. Zum Beispiel auf der Bahnentour, bekannt für ihre 10ʼ000 Tiefenmeter auf Trails an nur einem Tag. Auf die Saison 2024 erhalten die Bündner Varianten Verstärkung mit einer neuen Strecke im Aletschgebiet.

Ich mag keinen Zeh mehr bewegen, der Rücken ist verspannt, die Unterarme schmerzen. Bewegungslos hänge ich an diesem lauen Sommerabend in einem Sessel auf der Veranda in Fiesch und geniesse das letzte Tageslicht. Dabei durchfliesst mich in dieser ­totalen Erschöpfung eine vollkommene Zufriedenheit. ­Erschöpfung ist für mich ein erstrebenswerter Zustand.

Die GPS-Uhr spiegelt den heutigen Tag: Sie bilanziert einen fünfstelligen Abfahrtswert. Über 10ʼ000 Tiefenmeter sind wir runtergefahren, alle auf Singletrails und keiner davon zwei Mal. Das ist der Charakter der Bahnentour, zu deren drei Strecken in Graubünden sich eine neue Variante im Aletschgebiet gesellt. Diesen Neuling habe ich in den Waden. Zehn Mal sind wir in eine der vielen Gondeln zwischen Fiescheralp und Rieder­alp gestiegen, ebenso viele Trail-Abfahrten runter­gesteuert. Die längste mit fast 1900 Tiefenmetern an einem Stück. In der ­Summe läpperten sich fast 90 Trail-Kilometer zusammen. Und das in einem Tag. Die Bahnentour ist unbestritten eine Grenzerfahrung. Und genau darin liegt ihr Geheimnis: Die Erholung in der Anstrengung.

Menschen loteten schon immer ihre Grenzen aus, das ist ­quasi eine Konstante der Geschichte des Menschen. Die ­Phönizier erkundeten im Altertum den Mittelmeerraum, Kolumbus überquerte an der Schwelle zur Neuzeit den Atlantik und die Ameri­kaner landeten im Jahr 1969 auf dem Mond. Die Motivation von uns Mountainbikern ist im Kern die gleiche, bloss in viel kleineren Dimensionen: Wieviele Trail-­Abfahrten schaffen wir in einem Tag? Wo ­liegen unsere Grenzen?

Solche Challenges sind die Form, in der manche ihre Freizeit bevorzugen. Die Erholung und persönliche Befriedigung wird nicht per Dolce far Niente angestrebt, sondern über Heraus­forderungen und Abenteuer. Mit diesem Ansatz sind wir nicht alleine: Bergsteiger loten auf den Achttausendern des ­Himalajas ihre Grenzen aus, andere nehmen an Marathon­läufen durch Gross­städte teil oder wandern tagelang rund um den Mont Blanc. Die Herausforderung ist die neue Erholung. Dafür gibt es mittlerweile einen Fachbegriff: Challenge-Tourismus. Die Bahnen­touren sind ein Sinnbild dafür. 

Das Glück der Tüchtigen

Wir sind um sieben Uhr in der Früh in das Abenteuer gestartet. Das unterscheidet die Bahnentour Aletsch von ihren Pendants im Bünder­land. Hier funktionieren die Gondelbahnen als Zubringer zu den autofreien Orten Riederalp, Bettmeralp und Fiescheralp. Entsprechend ausgedehnt sind ihre täglichen Betriebszeiten. Ein Frühstart mitsamt Ausdehnung bis in die Abendstunden ist hier möglich. Das macht die Aletsch-Version deutlich entspannter als ihre Bahnentour-Pendants weil schlicht mehr Zeit zur Verfügung steht. 

Um sieben Uhr in der Früh sind wir indes bei Weitem die einzigen Mountain­biker, auch das Wandervolk liegt um diese Zeit in den Federn. Die Sonne steht noch tief beim Kaltstart in die erste Abfahrt etwas oberhalb der Märjelensees. Das matte Licht verwandelt die vergletscherte Szenerie in eine Art Zauberwelt. Uns wird vor Augen geführt, dass die frühen Morgen­stunden ­eigentlich die schönsten des Tages sind. Diese Eindrücke sind das Glück der Tüchtigen beziehungsweise der Bahnentour-Frühaufsteher.

Nicht viel anders als üblich

Als wir zwei Abfahrten später in der Bäckerei in Fiesch einen Zwischen­stopp einlegen, holen andere erst die Brötchen fürs Frühstück. Der Vorsprung im Tagesprogramm fühlt sich irgendwie gut an. Mittlerweile haben wir aber zudem einen ersten Eindruck des Charakters der Strecke erhalten: steil und ruppig. Die Bahnentour Aletsch ist nichts für bequeme Flow-Biker, die Tour geht an die Nieren und in die Waden. Und es wird sich zeigen: Viele Trails sind dezent aber sichtbar für Mountainbiker hergerichtet worden. Die eine oder andere Kurve ist nun gut rollbar, bei einer Steinpartie ist die fahrbare Linie plötzlich deutlich zu erkennen; aber viele Wurzel­teppiche oder Steilstücke sind geblieben. Uns ist klar: Die Route bis am Schluss durchzustehen, das wird eine sportliche Nummer.

 

Um die Mittagszeit erreichen wir das Bettmerhorn mit der faszinierenden Sicht auf den Aletschgletscher. Wir ­zirkeln über den felsigen Trail auf dem Bergrücken und stoppen immer wieder, um die einmalige Szenerie mitzunehmen. Hier zeigt sich die andere Eigenschaft der Bahnentouren: Man ist nicht in einem kompromisslosen Tiefenmeterrausch unterwegs. Es gilt, das Maximum aus dem Tag herauszuholen aber unter üblichen Bedingungen. Und dazu gehört die Musse für die landschaftlichen Reize. Oder auch die kurzen Plaudereien mit den Wanderern. Nichts anderes als sonst. Bloss die ausdehnte Mittags­pause fällt dem ambitionierten Zeitplan zum Opfer.

Um 15 Uhr sind 6600 Tiefenmeter im Kasten, drei lange Abfahrten stehen noch bevor. Wir wagen einen ersten Vergleich mit den anderen Bahnentouren. Die Aletsch-Version legt eine härtere Gangart an den Tag als zum Beispiel jene im Oberengadin. Die anspruchsvollen und wurzligen Trails zehren an der Substanz. Gleichzeitig ist die Walliser Bahnentour weniger stressig als die Original­route in Davos. Das liegt an den zahlreichen Pendel­bahnen. In Davos entscheidet der Fahrplan der Luft- und Standseilbahnen, ob die Marschtabelle aufgeht. Wer da eine halbstündliche Fahrt verpasst, ist aus dem Rennen. Das ist in der Aletsch­region mit dem permanenten Betrieb der Umlaufbahnen entspannter. 

Auffällig ist auch, dass in der Aletschregion auf den Trails kaum Wanderer unterwegs sind obschon die Region als eines der beliebtesten Ausflugsziele der Schweiz gilt. Das liegt daran, dass sich die Fussgänger primär auf dem Bergrücken oberhalb der Waldgrenze bewegen, die Mountainbiker wie wir in den ­Wäldern zum Talboden hinabfahren.

Das Glück in der Herausforderung

Als wir schliesslich um halb sechs Uhr abends auf der Rieder­alp in die letzte der zehn Abfahrten tauchen, da fliesst eine Art ­euphorische Erleichterung durch die Blutbahnen. Wenn uns auf den ­letzten Metern nicht noch ein Sturz oder ein erheblicher Defekt stoppt, dann haben wir es geschafft. Die grösste Heraus­forderung ist mittler­weile die Müdigkeit. Seit über zehn Stunden sind wir unterwegs und die kleinen Fahrfehler häufen sich. Jetzt gilt es, konzentriert zu bleiben und schon gar keine drauf­gängerischen Manöver einzulegen. Gleichzeitig versetzt uns diese Müdigkeit in einen Trance-ähnlichen Zustand.

Schliesslich rollen wir unversehrt beim Bahnhof Mörel ein und schauen auf die GPS-Uhr: 10’694 Tiefenmeter! Wir grinsen wie kleine Schulbuben. Es ist faszinierend, welche Glücks­schübe eine abstrakte Zahl auslösen kann. In uns drin steckt die tiefe Befriedigung, die ganze Tour geschafft, den Tag und die ­Region bis ans Limit ausgekitzelt zu haben. 

Diese totale Erschöpfung ist unsere Form der Erholung. Ich werde morgen wieder im Büro sitzen, der Körper wohl noch geschunden und die Muskeln schmerzend. Aber im Kopf werde ich so motiviert und so frisch sein wie selten zuvor. Das Glück in der Herausforderung, es ist das Geheimnis der Bahnentour.
 


 

Details zur Bahnentour Aletsch

Die Aletsch Arena verfügt mit den Zubringer­bahnen auf das Hochplateau der Fiescher-, Bettmer- und Riederalp sowie drei weiteren Bergbahnen mit Bike-Transport über ein einmaliges Angebot. Die Bahnentour ist die Kombination dieser Bergbahnen, dabei kommen über 10‘000 Tiefenmeter zusammen. Die Route im Aletschgebiet ergänzt die bestehenden Bahnentouren in Davos, in Lenzerheide und im Oberengadin. 

  • Strecke: 87 km, 10’230 tm, 690 hm
  • Startort: Fiesch oder Riederalp
  • E-Mountainbike: gut tauglich mit E-Mountainbike
  • Anforderungen Bike-Technik: S4
  • Anforderungen Ausdauer: S4
  • Beste Jahreszeit: Juli – Oktober
  • GPX-Track : bahnentour.bike


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