Graubünden laboriert an seiner MTB-Zukunft
Nach einer halben Stunde massiere ich den Nacken von Fanie Kok. Wer gleichzeitig meine Halsmuskulatur knetet, weiss ich nicht mehr. Davor hat die Runde bereits Yoga-Übungen gemacht, angeleitet von Dave Spielmann, dem ehemaligen Chef-Ausbilder der Schweizer Bikeguides, der jetzt für die Region Lenzerheide arbeitet.
Wo bin ich da gelandet? Im InnHub PopUp in La Punt, wo an der Zukunft des Fahrrad-Ökosystems in Graubünden gearbeitet wird. graubündenBike versammelt die Profis der Branche aus Tourismus, Trail-Bau, Marketing, Events, Wissenschaft und weiteren, die ein berufliches Interesse haben, das Velo weiterzubringen. Das Interesse der Mehrheit der Anwesenden ist das Mountainbike, das ist am Aussehen der Mehrheit unschwer zu erkennen. Bei graubündenBike 2023–2026 geht es aber ausdrücklich um das Fahrrad in seiner ganzen Breite, um alle Arten von Velos, um Tourismus und Naherholung, um Freizeit und Alltag, um Sport und Transport.
graubündenBike 1.0: «Home of Trails» wird erwachsen
Hier ist eine Rückblende nötig: graubündenBike 2010–2015 hat nach Ansicht aller rund zehn Personen, die für diese Reportage befragt wurden, das Mountainbike als zentrales Element des Sommertourismus im Kanton Graubünden etabliert und das Wissen über fast alle wichtigen Aspekte verankert. Das bereits vorhandene, aber auf wenige Köpfe konzentrierte Wissen über das Wesen des Mountainbikers, seiner Bedürfnisse, Vorlieben und Kaufkraft wurde breit zugänglich gemacht. Das Gleiche galt für Planung, Bewilligung, Bau und Unterhalt von Mountainbike-Strecken und doppelt genutzten Wegen. Simple aber effektive Dinge wie die Warnwimpel an Weidezäunen sind ein Resultat des ersten Zyklus von.
Davor trieben einige Destinationen die Entwicklung voran. Sie bildeten Inseln mit Trails, Transport, Angeboten und viel Wissen über die Mountainbiker. Dazwischen gab es wenig bis nichts. graubündenBike sorgte dafür, dass der ganze Kanton zum Spielplatz wurde, in dem sich die Mountainbiker effizient fortbewegen können.
Der erste Zyklus soll hier graubündenBike 1.0 heissen. Die Unterscheidung in 1.0 und 2.0 passt in diesem Zusammenhang ganz gut. Version 1.0 war ein Projekt des kantonalen Tiefbauamts und dessen Fachstelle für Langsamverkehr unter der Leitung von Peter Stirnimann. Die Leitung übertrug der Kanton der Firma Allegra und dessen Gründer Darco Cazin. Dieser prägte die Metapher, dass vor graubündenBike das Wissen über das Mountainbike auf so wenige Personen konzentriert war, dass man sie in einem Kleinbus hätte entführen können. Und dann wäre das ganze Wissen weg gewesen.
Als Folge des Programms ist der damalige Stand des Wissens allen zugänglich, die ihn brauchen. Es gibt ein Online-Handbuch, in dem es ebenso um das Wesen des Mountainbikers geht, wie um Trailbau und -unterhalt, um Signalisation, Haftungsfragen, Bikehotels, Guide-Ausbildung, Angebotsentwicklung und bis zu Qualitätsmerkmalen zielgruppengerechten Bildmaterials.
graubündenBike 2.0: Wachstum nach unten und in die Breite
Im Jahr 2023 schliesslich startete Graubünden Bike 2.0, das bis 2026 dauern wird. Wieder im operativen Lead: Darco Cazin und sein Unternehmen Allegra. 2,5 Millionen Franken stellt der Kanton an NRP-Geldern zur Verfügung. Diese sollen zu einem grossen Teil in Projekte fliessen, die im Rahmen der Workshops entwickelt werden.
Weil es heute im Kanton Graubünden eine grössere Menge an Personen mit Wissen und Erfahrung mit Mountainbike-Infrastruktur, Angeboten, Vermarktung und vielem mehr gibt, sind bei graubündenBike 2.0 nicht mehr eine Handvoll Vorreiter tonangebend. Heute bestimmen die jeweils 40 bis 60 Teilnehmenden der alle drei Monate stattfindenden Treffen selber, welche Themen sie besprechen und was für Projekte sie daraus entwickeln wollen. graubündenBike ist nicht mehr von einer «Zentralstelle» geleitet, sondern das Resultat der Summe dessen, wofür sich die Anwesenden engagieren. Der erste Zyklus war «top-down», der aktuelle ist «bottom-up».
Darco Cazin verdeutlicht: «Die Aussage ‹Man sollte einmal …› zählt heute nicht mehr. Wenn jemand etwas Neues entwickeln oder ein Problem lösen will, muss diese Person genügend andere Leute im System davon überzeugen, mitzumachen und das Projekt danach selber vorantreiben.» Das habe auch etwas Brutales. Denn wenn sich ausser demjenigen, der ein Thema aufgebracht hat, niemand dafür engagieren will, sei das Thema noch am gleichen Tag vom Tisch.
Auf diese Art ist eine Palette an Projekten ins Rollen gebracht worden, die von der Frequenzmessung bis zu einem Buchprojekt reicht, von Fragen im Zusammenhang mit Reservationssystemen bei Postautos zu einer Veranstaltungsreihe, die Frauen für das Fahrrad gewinnen will.
Eine Übersicht der bis zur Halbzeit gestarteten oder bereits abgeschlossenen Projekte von graubündenBike 2.0 zeigt die Bandbreite, auf der das Fahrrad gefördert wird: Analyse über die bikenden Baby-Boomer, Messung des wirtschaftlichen Impacts des Mountainbikes, Inputs zur Reservationspflicht in Postautos, kantonsweite Frequenz-Messung und Zusammenziehen bestehender Messaktivitäten, Update und Ausbau des Bündner Routennetzes über alle Velodisziplinen hinweg, Angebote für Einsteiger und Kinder, Schulung Wegunterhaltsverantwortliche, Kurse für Fachleute, eine Event-Reihe, um Frauen für das Velo zu gewinnen, ein Projekt, das die verschiedenen Velo-Communities miteinander verbinden will – ein Buch über Bündner Velokultur und Protagonisten, Flem Gravel & Coffee – ein Gravel Event der Gehrig Twins in Flims, den es aber schon vor der Unterstützung durch graubündenBike gab.
Resultate der Workshops
Zwischen Diversität und Verzettelung
Jede und jeder kann eine Idee vorschlagen. Wenn sich genug Mistreiter finden und das Projekt nicht gewisse Grundregeln verletzt, gibt es Geld aus dem graubündenBike-Topf. Das klingt nach Beliebigkeit und birgt die Gefahr der Verzettelung. Darco Cazin widerspricht: «Das Kollektiv kann besser abschätzen, was relevant ist, als Einzelpersonen.» Er selber moderiert die Workshops und das Programm und wacht darüber, dass die Grundsätze von graubündenBike und der Governance eingehalten werden. Entscheidend sind auch die Regeln, die für die Vergabe von NRP-Mittlen gelten: kein Bau von Infrastruktur, kein reines Marketing, nur Anschubfinanzierung. Was mit Geld von graubündenBike gestartet wird, muss sich später selber finanzieren. Zudem kontrolliert eine Steuerungsgruppe, dass die Projekte den Zielen des Kantons entsprechen. Dieser gehören Vertreter des AWT, der Fachstelle Langsamverkehr und von Graubünden Ferien an.
«Das Risiko ist, dass der strategische Fokus verloren geht», gibt Jan Steiner, Chef von Engadin Tourismus, zu bedenken. Trotzdem ist er überzeugt, dass die breite Expertise, die durch die vielen Teilnehmenden zusammenkommt, ein Gewinn für Graubünden ist.
Die Frage ist auch, ob sich die Workshop-Teilnehmenden nicht zu viel zumuten, wenn sie Kinder, Frauen und Senioren aufs Velo bringen wollen, Freizeit- und Alltagsrouten verbessern, kantonsweit Bewegungen messen, Fachleute weiterbilden und nebenbei noch Medienproduktionen realisieren wollen. Hier ist die Verteilung der Aufgaben auf viele Köpfe ein Gewinn. graubündenBike muss gar nicht erst Aufgaben delegieren, wenn die Ausführenden sich ihre Aufgaben selber stellen.
Dies führt aber direkt zur Fundamentalkritik, dass graubündenBike 2.0 zwar viele kleine Projekte umsetze, aber keinen grossen Wurf hervorbringen werde, wie die Version 1.0 einer war. Und mehr noch, dass Graubünden 2.0 gar keine Vision habe, während rundherum andere Gebiete mit Hochdruck ihre Mountainbike-Angebote ausbauen.
Es gibt durchaus ein Zukunftsbild von graubündenBIKE. Das Fahrrad müsse eine grössere Rolle im Alltag wie in der Freizeit erhalten, der Langsamverkehr sei zu fördern. Im Projektbeschrieb heisst es, Graubünden solle ein «alternativer Lebensraum» werden. Ein strategisches Ziel ist da, es ist aber sehr allgemein formuliert.
Ein grosser Wurf oder eine breitere Basis?
Die Kritik an graubündenBike stammt von Personen, die das Mountainbike im Fokus haben. Für sie steht die Rolle Graubündens als führende Mountainbike-Region Europas auf dem Spiel. Pascal Krieger, bis vor Kurzem Brand-Manager des Bike Kingdom Lenzerheide argumentiert historisch: «Als Henry Ford die Bauern fragte, was sie bräuchten, um besser arbeiten zu können, sagten sie: ‹stärkere Pferde›. Sie kannten den Traktor nicht und konnten ihn sich auch nicht vorstellen.» Das Gleiche gelte für jene, welche die Teilprojekte von graubündenBike 2.0 umsetzten: «Niemand hat eine Vision für das grosse Ganze, die es braucht, um den nächsten grossen Schritt zu machen.» Lieber stecke man eine Million Franken in 1000 kleine Projekte, als in ein grosses, das als Zugpferd allen etwas bringt.
Marc Schlüssel, Geschäftsführer der Tourismusorganisation Lenzerheide, sieht in graubündenBike 2.0 eine solide Grundlage, aber gleichzeitig auch ungenutztes Potenzial: «graubündenBike leistet mit der Weiterentwicklung von Routen, Erschliessung und dem Fokus auf Langsamverkehr eine zentrale Basisarbeit, die den Mountainbike-Tourismus im Kanton nachhaltig stärkt. Um diese führende Rolle langfristig zu sichern – und international weiter auszubauen – braucht es jetzt auch visionäre Leuchtturmprojekte. Ich denke an ein Innovations- und Kompetenzzentrum, das Wirtschaft, Forschung, Startups und Events rund ums Biken und Velofahren an einem Ort zusammenführt. So könnte in Graubünden ein echtes ‹Silicon Valley› des Mountainbikens» entstehen – ein kreatives Ökosystem, das neue Technologien, Produkte und Formate hervorbringt und die globale Bike-Industrie anzieht. Die Voraussetzungen sind da: Topografie, Infrastruktur, Knowhow und viel Leidenschaft. Ich bin überzeugt: Jetzt ist der Moment, um diesen nächsten Schritt zu gehen.»
Die Kritik an graubündenBike 2.0 ist aber nicht nur eine von Visionären an der Arbeit von Realisten. Hinter der Kritik stehen Leute, die in einem eng definierten Marktsegment – dem Mountainbike-Tourismus – Spitzenreiter sein wollen. Pascal Krieger bringt es auf den Punkt: Eine grosse Runde, die alle drei Monate zusammenfindet, werde den grossen Wurf nicht liefern. «Das geht nicht mit 50 Leuten. Da muss eine Handvoll fähiger Leute full-time dran sitzen.» Vielleicht sind die Bündner Leader-Destinationen in diesem Markt ja inzwischen stark genug, um den nächsten grossen Wurf ohne Fördergelder und vom Kanton geförderte Workshops zu schaffen.
Analyse zur Situation von Graubünden
Zu dieser Reportage gibt es einen ausführlichen Kommentar von Thomas Giger:
Hat Graubünden den Trail verpasst?
Offenlegung
Der Autor dieses Beitrags profitiert selber von graubündenBike: Er hat einen Text für ein Buch über die Velokultur in Graubünden geschrieben, das zur Hälfte aus dem Budget von graubündenBike finanziert wird.