Hat Graubünden den Trail verpasst?
Keine andere Region in den Alpen hat den Mountainbikesport so professionell, authentisch und erfolgreich aufgebaut wie Graubünden. Dieser Erfolg kam nicht zufällig vom Himmel gefallen. Die Grundlage legte im Jahr 2009 ein visionäres Konzept mit dem Namen «graubündenBike». Es war der Startschuss für eine Erfolgsgeschichte, die Graubünden zur Nummer eins der Alpen machte.
Mittelmässigkeit statt Pioniergeist
Auf die glorreiche Aufbauphase folgte im Jahr 2023 ein Nachfolgeprojekt mit offenen und partizipativen Workshops im Zentrum. Die Idee: Alle dürfen mitreden, Projekte einbringen, gemeinsam entscheiden, was weiterentwickelt wird. Das Resultat erweist sich nun als ernüchternd. Ein Blick in die Projektliste ist quasi selbstredend, dazu gehört zum Beispiel die Entwicklung eines Messstellenkonzepts; ein autofreier Tag auf zwei Alpenpässen; die Verbesserung der Schulwege mit dem Fahrrad; ein szeniger Gravel-Event; die Schulung für Trail-Unterhalt; die Produktion eines Coffeetable-Books; die Durchführung einer Fachtagung; ein Anlass für und mit Regionalpolitiker; die Aktivierung von Mountainbikerinnen mit Events; der Betrieb einer Weiterbildungs-Plattform. Schön und gut, doch das ist gut gemeinter Durchschnitt, den auch zahlreiche andere Regionen bieten. Der Pioniergeist, der einst Graubünden beflügelte, ist in Mittelmässigkeit verflossen.
Der entscheidende Fehler liegt dabei im System dieser, auf Freiwilligkeit basierenden Workshops. Wer daran teilnimmt, ist entweder amts halber dabei – Vertreter aus Behörden, Tourismus und Verbänden – oder hofft auf Fördergelder für das eigene Projekt. Oder gleich beides zusammen. Die Motivation liegt also primär in der Opportunität. Der eigene Nutzen wird zum Leitstern der Strategie. So entsteht kein Fortschritt, sondern ein Schaulaufen der Interessen.
Vorsprung ist bald eingebüsst
Graubünden hat mit diesem Vorgehen an Mountainbike-Dynamik eingebüsst während sich gleichzeitig das Wallis auf der Überholspur befindet, Frankreich mit einem riesigen und hochwertigen Trail-Netz nachzieht oder Bergbahnen in Österreich kräftig in Abfahrtsstrecken investieren. Um bloss die Entwicklungen in unmittelbarer Nähe zu erwähnen.
Vereinzelt gärt es mittlerweile innerhalb Graubündens. Wichtige Akteure sehen diese Mittelmässigkeit kritisch bis gefährlich, doch Tacheles wird stets nur hinter vorgehaltener Hand geredet. Niemand wagt es, Position zu beziehen. Zu gross ist die Angst, es sich mit dem Kanton als Geldgeber zu verscherzen. «Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing» – das Sprichwort trifft in Graubünden ins Schwarze. Der Mountainbike-Kanton leidet an Opportunismus.
Zurück zur Pionierrolle?
Was Graubünden in Sachen Mountainbike nun bräuchte, wäre ein starkes, visionäres und unabhängiges Leitbild. Ein Gremium, das strategisch denkt, mutig handelt und Perspektiven entwickelt. Stattdessen liest sich das von graubündenBike veröffentlichte Zukunftsbild wie ein austauschbares Mobilitätskonzept einer Grossstadt, indem das Wort Mountainbike nicht einmal vorkommt.
Pionierhafte Handlungsfelder gäbe es genug: Den Mountainbikesport nicht mehr touristisch entwickeln sondern als Teil der Gesamtgesellschaft. Standortförderung durch attraktive Mountainbike-Infrastruktur. Hochmoderne Digitalisierungs-Strategien für die Benutzerlenkung. Visionäre Perspektiven für Transport- und Bergbahninfrastrukturen. Undsoweiter. Es gäbe zahlreiche Ansätze, den Mountainbikesport auf eine nächste Stufe zu heben. Noch hätte Graubünden das Zeug dazu, diese Pionierrolle wieder einzunehmen.
Die Idee für die Entwicklung eines solchen visionären Gremiums lag bereits einmal auf dem Tisch, doch die Antwort der Kantonsbehörden im Jahr 2022 war unmissverständlich: «Wir brauchen kein Kompetenzzentrum. Graubünden ist das Kompetenzzentrum.» Diese Aussage steht sinnbildlich für eine gefährliche Überheblichkeit. Genau wie einst Kodak, Nokia oder General Motors, die glaubten, unantastbar zu sein und dann vom Zeitgeist überrollt wurden.
Die partizipativen Workshops Graubündens sind eine ausgezeichnete Methode, um Projekte und Angebote zu entwickeln. Doch als zentrales Strategie-Element erweisen sie sich als ungeeignet. Deshalb muss Graubünden in Sachen Mountainbike dringend den Blick wieder heben. Und schärfen. Es braucht neue Visionen, frische Ideen, mutige Köpfe. Sonst droht der Kanton dort zu versinken, wo er mit einem Fuss schon drin steht: in der Mittelmässigkeit. Gefragt ist eine neue Dynamik mit einer weitsichtigen und überzeugenden Strategie. Jetzt wäre der Moment für einen nächsten grossen Wurf, um den Pioniergeist zurückzuholen, der Graubünden einst gross gemacht hat.
Sinnbildlich für die Situation ist ein Zitat des einstigen Nokia-CEO Stephen Elop in seiner Abschiedsrede: «We didn't do anything wrong, but somehow, we lost.» Diesen Satz sollte man sich in Graubünden zu Herzen nehmen.
Offenlegung
Der Autor Thomas Giger hat zusammen mit mehreren Vertretern aus den Tourismusregionen im Jahr 2022 die Idee lanciert, in Graubünden ein Mountainbike-Kompetenzzentrum aufzubauen. Das Projekt wurde von den Kantonsbehörden und von Graubünden Ferien versenkt. Es bestanden und bestehen bei Giger keine persönlichen oder beruflichen Ambitionen, sondern die intrinsische Motivation, den Mountainbike-Spirit weiterzubringen. Er ist wegen seiner finanziellen Unabhängigkeit aktuell einer der wenigen, der die Mountainbike-Entwicklungen in Graubünden öffentlich hinterfragt.